Ukrainisch-Russische Retrospektion
Die Lage in der Ukraine ist nicht gerade übersichtlicher geworden, in den letzten Tagen und Wochen. Die mediale Aufmerksamkeit hat sich dabei jedoch merklich verschoben: weg vom Kiewer Maidan-Platz, hin zum Konflikt um die ukrainische Halbinsel Krim. Was wir dort zu sehen bekommen ist oftmals ähnlich schwierig einzuordnen wie die Bilder vom Maidan. Man sieht Aufnahmen von pro- und antirussischen bzw. pro- und antiukrainischen Demonstrationen, von militärischen Truppenbewegungen, von umstellten ukrainischen Kasernen, von nicht identifizierten bzw. identifizierbaren Soldaten, die die einen als „örtliche Selbstverteidigungskräfte“ und die anderen als russische Spezialtruppen bezeichnen.
Wie ist es dazu gekommen und welches sind die Hintergründe? Droht da etwa ein neuer Krimkrieg und damit zugleich ein neuer Kalter Krieg zwischen dem Westen und Russland? Wir hören Rede und Gegenrede, viel schwarz und weiß, von West und Ost – und nur wenige Zwischentöne.
Viele Blogger bemühen sich, ob der dramatischen Entwicklungen in der Ukraine, um eine angemessene Einordnung dieser Vorgänge und wählen dabei oftmals den Weg der Retrospektion. Der Blick wird auf die Vergangenheit gerichtet, um die Entstehung und Dynamik des heutigen Konflikts besser verstehen zu können.
Vera Lengsfeld gewährt in ihrem Beitrag auf der Seite Die Achse des Guten einen kurzen Einblick in die Wirren der Geschichte der Ukraine, die sie als ein hochgradig artifizielles Gebilde beschreibt, das schon von Beginn an – eben historisch bedingt – tief gespalten gewesen sei und folglich bis heute auf einer höchst fragilen Verwerfungslinie ruhe. Den aktuellen politischen Entscheidungsträgern der Europäischen Union, die nun (vor-)schnell auf ein Eingreifen drängen würden, empfiehlt sie daher dringend historische Nachhilfestunden. Dann könnten sie erkennen, dass die Ukraine selbst über eine zukünftige Spaltung oder einen weiteren Zusammenhalt entscheiden müsse, wie dies etwa in der Tschechoslowakei erfolgreich vorgeführt worden sei.
Auch Frank Lübberding klagt auf der Seite Wiesaussieht die Geschichtsvergessenheit vieler deutscher Beobachter an, insbesondere hinsichtlich des Konflikts um die Krim. Die Ukraine und speziell die Krim, die 1954 von Nikita Cruschtschow aus machtstrategischen Gründen an die Ukraine abgetreten wurde, sei (historisch) essentiell bzw. existentiell für Russland. Egal ob nun ein Demokrat oder ein Autokrat im Kreml herrsche, dieser könne nicht einfach so von der Ukraine ablassen und handeln wie er (oder sie) wolle. Zugleich ermahnt Lübberding die politisch Handelnden Deutschlands und des Westens zu einem rationalen Umgang mit Russland, dessen historisch und geostrategisch bedingte Interessen es eben anzuerkennen gelte. Vor den fatalen Konsequenzen, die das Wiederaufleben eines überwunden geglaubten russischen Feindbildes nach sich ziehen könnte, warnt nachdrücklich auch Albrecht Müller auf den NachDenkSeiten.
Die Frage nach der Bedeutung der Krim für Russland treibt insbesondere Hansjörg Müller auf der Seite Die Achse des Guten um. Er beschäftigt sich mit der wechselvollen Geschichte der Krim, die seit der Antike weit mehr als nur einen Besitzerwechsel zu verzeichnen hatte und dann, 1783 unter Katharina II., russisch wurde. Die Krim, mit ihren milden Temperaturen und schönen Stränden, etablierte sich trotz (oder gerade wegen) einer weiter umkämpften Geschichte – der Krimkrieg 1856, die deutsche Besatzung 1942 und die Befreiung durch sowjetische Truppen 1944 – zum Sehnsuchtsort vieler Russen und Sowjetbürger. Vielleicht ist es diese Sehnsucht – die noch heute bei vielen Russen nachhallt – die man neben den im engeren Sinne geostrategischen Interessen zum Verständnis des Konflikts um die Krim noch stärker in Rechnung stellen sollte.
Chris Bertram fragt schließlich auf der Seite Crooked Timber als bekennender Nicht-Experte zunächst einmal danach, wem man denn bei diesem Konflikt überhaupt noch glauben könne und was bzw. wen es sich dabei zu lesen lohne. Die oft vorzufindenden Versuche, die Auseinandersetzung um die Krim in historische Schablonen zu pressen, erscheinen ihm jedenfalls ganz überwiegend wenig hilfreich zu sein. Weder mit Analogien zur (geo-)politischen Lage in Europa um 1938, noch zum ungarischen Volksaufstand 1956, zum Prager Frühling 1968 oder zu den Jugoslawienkriegen in den 1990er Jahren, komme man hier besonders weit. Alleine unter dem Eindruck seiner Lektüre von Christoper Clarks Studie zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs (Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, 2013), vermag Bertram doch einige Parallelen zur momentanen Konfliktkonstellation und -dynamik in der Ukraine zu erkennen. Das sind freilich keine beruhigenden Aussichten.
Viel Retrospektion in den Weiten der Blogosphäre also, mit ganz unterschiedlichen Ansätzen, Antworten und daraus zu ziehenden Konsequenzen. Schon in der letzten Woche endete der Artikel zu den Ereignissen auf dem Maidan mit dem Aufruf, ganz genau hinzusehen und nicht in ein doch all zu verlockendes Gut/Böse-Schema zu verfallen. Daran hat sich auch in dieser Woche nichts geändert – ganz im Gegenteil.